Die neue Vorsitzende der SPÖ, Pamela Rendi-Wagner, im Gespräch über die „Kraft-Injektion aus Wels“ und ihre Forderung nach einer Senkung der Wohnkosten, über ihr Pflegekonzept und glückliche Schulkinder und über das Versagen der Regierung beim Thema Migration.
Sie wurden vor kurzem beim Parteitag in Wels mit 97,8 Prozent der Stimmen zur neuen Vorsitzenden der SPÖ gewählt. Was haben Sie aus Wels mitgenommen?
Ehrlich gesagt, ich bin jetzt noch überwältigt von der großen Unterstützung, die ich bei unserem Parteitag in Wels bekommen habe. Diese 97,8 Prozent waren wirklich eine große Kraft-Injektion. Neben dieser Kraft nehme ich auch ganz viel Stärke, Rückhalt und Geschlossenheit für meine Arbeit mit. Und da geht es nicht um meine Person oder um die Partei. Das alles ist kein Selbstzweck. Politik, wie ich sie verstehe, hat nur ein Ziel: das Leben der Menschen jeden Tag ein Stück besser und gerechter zu machen. Das ist Ziel und Berufung der SPÖ, das ist seit 130 Jahren tief in unsere DNA eingeschrieben.
Nach 130 Jahren Parteigeschichte gibt es mit Ihnen jetzt erstmals eine Frau an der Spitze der SPÖ. Worin liegt Ihre größte Stärke?
Meine Stärke besteht ganz klar darin, dass ich Teamplayerin bin und das Miteinander in den Mittelpunkt stelle. Nur gemeinsam können wir erfolgreiche Politik für die Menschen in diesem Land machen. Dafür müssen wir zuhören, ihre Sorgen und Nöte ernst nehmen und Lösungen erarbeiten, die das Leben der Menschen erleichtern.
Die Sozialdemokratie steckt in vielen Ländern Europas in Schwierigkeiten, wenn man sich die Wahlergebnisse anschaut. Provokant gefragt: Hat sich die Sozialdemokratie überlebt, wofür braucht es sie noch?
Für Abgesänge auf die Sozialdemokratie gibt es keinen Grund. Denn solange es Ungerechtigkeiten auf der Welt gibt, solange etwa Frauen für die gleiche Arbeit weniger bezahlt bekommen oder solange es nicht gleiche Chancen für alle Kinder gibt, braucht es die Sozialdemokratie, um das Leben der Menschen zu verbessern. Gerade in Zeiten wie diesen braucht es uns. Der soziale Frieden und der gesellschaftliche Zusammenhalt sind gefährdet. Es sind nur wir SozialdemokratInnen, die für die Interessen der Menschen eintreten. Das war immer so und wird immer so bleiben.
Das Thema Bildung hat breiten Raum in Ihrer Rede beim Parteitag eingenommen. Ihre Pläne?
Eines ist klar: Von der Regierung wird in Sachen Bildung nicht viel Brauchbares kommen. Da wird der Rückwärtsgang eingelegt, da wird gekürzt und zusammengestrichen statt gefördert. Das ist bei so einem wichtigen Thema der völlig falsche Weg. Denn Bildung ist für mich, um in meiner früheren Sprache als Ärztin zu sprechen, eine Schutzimpfung. Bildung macht gesünder, Bildung schützt gegen Arbeitslosigkeit, eröffnet Chancen und Zukunft. Und vor allem: Bildung ist der Schlüssel zu einem erfolgreichen und glücklichen Leben. Wir müssen daher in die Bildung investieren und unsere Kinder bestmöglich fördern, damit sie all ihre Talente entfalten können. Wir wissen, dass Bildung in Österreich noch immer vererbt wird. Und wir wissen auch, dass es in Österreich rund 500 sogenannte Brennpunktschulen mit besonders vielen benachteiligten SchülerInnen gibt. Diese Kinder dürfen wir nicht im Stich lassen. Daher wollen wir 5.000 zusätzliche und bestens ausgebildete LehrerInnen genau an diesen Schulen. Zusammen mit unserer Forderung nach einem flächendeckenden Ausbau der Ganztagsschulen und dem zweiten verpflichtenden Kindergartenjahr ist das eine ganz wichtige Maßnahme für mehr Chancengerechtigkeit. Für mich gibt es in der Bildungspolitik nur einen Gradmesser: Nützen die Reformen unseren Kindern, sind sie glücklich, neugierig und werden sie in all ihren Talenten gefördert? Das ist auch der Unterschied zur ÖVP/FPÖ-Regierung: Wir wollen unseren Kindern Chancen bieten, die Regierung verspielt sie.
Sie wollen die Wohnkosten senken. Was genau sind Ihre Forderungen?
Wir sind seit rund 20 Jahren mit einer Entwicklung konfrontiert, bei der die Mieten deutlich stärker steigen als die Haushaltseinkommen. Es gibt Familien, die bis zu 40 Prozent ihres Einkommens dafür ausgeben müssen. Leistbare Wohnungen zu finden, wird für viele Menschen immer schwieriger. Da dürfen wir nicht länger zuschauen, da müssen wir handeln! Aber die Regierung unternimmt nichts gegen die explodierenden Mieten. Im Gegenteil: ÖVP und FPÖ haben sich in ihrem Regierungsprogramm darauf geeinigt, noch mehr Lagezuschläge einzuführen. Und über die zehn Prozent, die die MieterInnen als Mehrwertsteuer fürs Wohnen zahlen müssen, freut sich Monat für Monat Finanzminister Löger. Unser Ziel als SPÖ ist klar: Wir wollen die Menschen entlasten. Daher haben wir ein 3-Punkte-Paket vorgelegt, das bei gutem Willen rasch umsetzbar ist. Weg mit der Mehrwertsteuer auf Mieten, Abschaffung der Maklergebühren für Mieter und Einführung eines Universalmietrechts. Von der Abschaffung der Mehrwertsteuer würden 1,7 Millionen Haushalte profitieren, weil sie sich mit einem Schlag zehn Prozent der Miete ersparen.
Kritiker wenden ein, dass bei einem Aus der Mehrwertsteuer auf Mieten auch der Vorsteuerabzug für die VermieterInnen fallen würde, wodurch es erst wieder zu Verteuerungen kommen würde. Ist dieser Einwand berechtigt?
Nein, das sind die üblichen Argumente, mit denen eine sinnvolle Maßnahme abgewürgt werden soll. Dazu muss man wissen: Die Mehrwertsteuerrichtlinie wird auf EU-Ebene gerade neu verhandelt. Es gibt bis zu 20 Länder, die bereits Ausnahmen bei der Mehrwertsteuer haben. Es wäre daher hoch an der Zeit, dass sich der Finanzminister dafür einsetzt, dass auch Österreich die erste Mehrwertsteuerbefreiung bekommt. Denn mit einer echten Steuerbefreiung ist sichergestellt, dass der Vorsteuerabzug erhalten bleibt. Wir werden beim Thema leistbares Wohnen jedenfalls nicht locker lassen und im Parlament den Druck weiter erhöhen.
Das Thema Pflege ist schon jetzt und erst recht in Zukunft eines der drängendsten der Sozialpolitik. Wie kann es gelingen, bestehende Probleme wie zum Beispiel zu wenig Personal in den Griff zu bekommen?
Gerade als Ärztin weiß ich, wie wichtig es ist, dass die Menschen im Alter würdevoll und nach ihren Bedürfnissen versorgt werden. Klar ist: Die Brieftasche darf nicht über die Qualität der Pflege entscheiden. Mit der Abschaffung des Pflegeregresses haben wir als ersten Schritt die Menschen davor bewahrt, im Pflegefall Hab und Gut zu verlieren. Jetzt müssen die nächsten Schritte folgen. Wir müssen das Pflegepersonal und die pflegenden Angehörigen unterstützen, die tagtäglich Enormes leisten. Dafür braucht es auch einen Rechtsanspruch auf Pflegekarenz und Pflegeteilzeit. Bislang werden die Menschen mit bürokratischen und organisatorischen Fragen allein gelassen, wenn es in der Familie plötzlich einen Pflegefall gibt. Zur emotionalen Belastung kommt dann auch noch die bürokratische. Genau da setzt unser Pflegekonzept an. Wir wollen Pflegeservicestellen im ganzen Land, die sich um alle Pflegefragen kümmern – von der 24-Stunden-Betreuung über Förderungen bis zum Antrag auf Pflegegeld. Da brauchen wir eine echte Serviceeinrichtung und zwar nicht nur zu Beginn, sondern während der gesamten Zeit der Pflege.
Die Regierung hat vor kurzem eine Steuerreform angekündigt und Entlastungen versprochen. Ihre Einschätzung?
Die Regierung hat schon so einiges angekündigt und versprochen. Die Realität sieht dann oft ganz anders aus, wenn ich hier nur an den 12-Stunden-Tag und die angebliche Freiwilligkeit denke. Jetzt kommen immer mehr Fälle ans Licht, wo Menschen unter Androhung von Kündigung gezwungen werden sollen, 12 Stunden täglich und 60 Stunden pro Woche zu arbeiten. Aber zurück zur Steuerreform. Man wird sehen, ob diese angekündigte Steuerreform kommt und ob die Richtigen davon profitieren. Bislang hat die Regierung ja in der Hauptsache Steuergeschenke an Großkonzerne und Großsponsoren verteilt. Ich will eine gerechte Steuerreform, bei der die kleinen und mittleren EinkommensbezieherInnen entlastet werden. 80 Prozent aller Steuereinnahmen stammen von ArbeitnehmerInnen und KonsumentInnen. Daher ist es nur logisch und richtig, dass genau diese Menschen auch 80 Prozent der Entlastung bekommen.
Zu einem anderen Thema, das viele Menschen beschäftigt: Die Regierung krempelt gerade das Sozialversicherungssystem um und verspricht eine „Patientenmilliarde“. Wie bewerten Sie das als Ärztin, wie als Politikerin?
Da wird Vieles angekündigt und ganz viel versprochen und am Ende kommt nichts Gutes dabei raus. In Wahrheit geht es der Regierung beim Kassenumbau nicht um das Wohl der Menschen, sondern um Machtpositionen. Die Kassenzerschlagung ist der Startschuss für eine schleichende Privatisierung unseres Gesundheitssystems. Da drohen uns ganz schnell Selbstbehalte bei Arzt- und Spitalsbesuchen und weniger bezahlte Medikamente. Das ist inakzeptabel. Für mich ist klar: Der Bauarbeiter muss die gleichen Leistungen wie der Beamte erhalten.
Auch bei der Mindestsicherung bleibt kein Stein auf dem anderen. Die Regierung spricht von „neuer Gerechtigkeit“. Zu Recht?
Nein, was ÖVP und FPÖ da vorgelegt haben, hat mit Gerechtigkeit gar nichts zu tun. Ich habe von Sebastian Kurz nicht erst einmal den salbungsvollen Satz gehört, dass sich die Stärke einer Gesellschaft darin zeigt, wie man mit den Schwächsten umgeht. Ein Lippenbekenntnis, wie wir jetzt sehen: Denn die Kürzungen bei der Mindestsicherung treffen die Schwächsten und die Kinder voll. Vor allem für Familien mit Kindern wird es deutlich weniger Geld geben – egal, ob es sich dabei um österreichische oder ausländische Familien handelt. Für mich grenzt es an Menschenverachtung, wenn man so wie die Regierung zuerst bei Deutschkursen und IntegrationslehrerInnen kürzt und dann jene bestraft, die nicht ausreichend Deutsch können. Diese Kürzungen werden aber schon bald noch mehr Menschen treffen. Denn die Regierung arbeitet derzeit mit Hochdruck an der Abschaffung der Notstandshilfe. Da werden dann tausende Menschen, davon 80 Prozent ÖsterreicherInnen, die ihre Arbeit verloren haben, automatisch in das gekürzte Mindestsicherungssystem abrutschen – samt Zugriff auf Erspartes, Haus oder Wohnung! Die ÖVP hat sich durchgesetzt und die FPÖ ist hier schon wieder auf ganzer Linie umgefallen.
Beim SPÖ-Parteitag in Wels haben Sie vom „Versagen“ der Regierung in der Migrationsfrage gesprochen. Was ist Ihr Lösungsansatz für diese Frage, die unsere Gesellschaft zu spalten droht?
Diese Spaltung der Gesellschaft nehmen ÖVP und FPÖ ganz bewusst in Kauf. Unser Ansatz ist klar: Humanität und Ordnung. Helfen, wo es geboten und notwendig ist und zwar mit den Möglichkeiten, die wir haben. Und Ordnung dort, wo es darum geht, den kriminellen Schleppern das Handwerk zu legen, die mit dem Leid der Menschen Milliarden verdienen. Und eines müssen wir in der Migrationsfrage auch sehen: Kein Land der Welt kann das Thema der Migration alleine lösen. Da müssen wir gesamteuropäisch handeln. Mit Maßnahmen wie einem einheitlichen EU-Asylrecht, einem effektiven Schutz der EU-Außengrenzen und besseren Rückführungsabkommen. Da ist von Sebastian Kurz, der die letzten sieben Jahre als Integrationsstaatssekretär, Außenminister und jetzt als Kanzler Verantwortung trägt, nichts gekommen. Und auch im Rahmen des österreichischen EU-Ratsvorsitzes wurde nichts erreicht.
Zur Person:
Pamela Rendi-Wagner, geboren am 7. Mai 1971, wuchs als Tochter einer alleinerziehenden Mutter in Favoriten, dem 10. Wiener Gemeindebezirk, auf. Nach der Matura studierte sie ab 1989 an der Medizinischen Universität Wien, wo sie 1996 promovierte. 2008 folgte die Habilitation für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin. Bis 2011 war sie Gastdozentin an der Universität Tel Aviv. 2011 wurde Rendi-Wagner Sektionschefin im Gesundheitsministerium. Seit 2012 ist sie Mitglied im Bund sozialdemokratischer AkademikerInnen, KünstlerInnen und Intellektueller. Nach dem Tod von Sabine Oberhauser 2017 folgte Rendi-Wagner ihr als Bundesministerin für Gesundheit und Frauen nach. Mit 97,8 Prozent der Stimmen wurde sie am 24. November 2018 am SPÖ-Bundesparteitag in Wels zur ersten Parteichefin der SPÖ gewählt. Rendi-Wagner ist verheiratet und hat zwei Töchter.